Das Ende des Minutenzählens

Der neue Pflegebegriff verändert das Begutachtungsverfahren des Medizinischen Dienstes
(dbp/auh) Nach den Plänen der Bundesregierung soll voraussichtlich 2017 mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und damit einhergehend ein neues Begutachtungsverfahren in ganz Deutschland umgesetzt werden. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK), der für die Begutachtung und Einstufung der Pflegebedürftigen zuständig ist, hält das neue Verfahren für eine deutliche Verbesserung, die allen Beteiligten zugute komme.
Der MDK hat das im Behördendeutsch „Neues Begutachtungsassessment“ (NBA) genannte Verfahren bundesweit in der Praxis erprobt. Dr. Waltraud Hannes vom MDK Baden-Württemberg stellte im März 2015 auf einem Kongress in Essen die Kernpunkte des NBA vor und äußerte sich uneingeschränkt positiv über ihre Erfahrungen. Die neuen Kriterien zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit führen ihrer Meinung nach dazu, dass Menschen mit seelischen, psychischen und kognitiven Störungen oder Erkrankungen nicht länger benachteiligt werden.
Denn der „alte“, das heißt der zurzeit gültige Begriff der Pflegebedürftigkeit umfasse hauptsächlich die Aspekte Körperpflege, Ernährung und Mobilität. Nicht berücksichtigt wird, ob Wahrnehmungsstörungen, Stimmungsschwankungen oder Orientierungsschwierigkeiten den Alltag beeinträchtigen. Der Gutachter des MDK müsse danach fragen, wie oft und wie lange der hilfebedürftige Mensch Unterstützung bei der Verrichtung bestimmter Tätigkeiten benötigt. Es wird minutengenau dokumentiert. „Fakt ist, dass dieses Minutenzählen vielen Pflegebedürftigen nicht gerecht wird“, so Dr. Peter Pick, Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS).
Neuer Maßstab: Grad der Selbstständigkeit
An die Stelle des Zeitaufwands für die Hilfe tritt beim NBA der Grad der Selbstständigkeit als Maßstab für die Einschätzung der Pflegebedürftigkeit. Das bedeutet: Es geht nun darum, was der Mensch noch ohne fremde Hilfe kann. Außerdem werden neben Körperpflege, Ernährung und Mobilität neue Aspekte mit in die Bewertung aufgenommen, zum Beispiel kognitive und kommunikative Fähigkeiten, die Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte. Auch der Umgang mit den krankheits- und therapiebedingten Anforderungen spielt eine Rolle.
„Die Befragung des Versicherten und seiner Pflegepersonen nach den Vorgaben des NBA gestaltet sich wertschätzender und näher an der Alltagswirklichkeit. Im Verlauf der Begutachtung entspannte sich die Atmosphäre für alle Beteiligten“, so die Erfahrung von Dr. Hannes.
Fünf Pflegegrade anstelle der drei Pflegestufen
Eine weitere Neuerung im NBA ist die Einführung von fünf Pflegegraden statt der aktuell geltenden drei Pflegestufen. Wer bereits eine Pflegestufe hat, soll automatisch und ohne Antrag in einen neuen Pflegegrad eingestuft werden.
Inhaltliche Kritik am NBA gibt es kaum. Allerdings befürchten Interessenverbände, dass die Umsetzung an der mangelhaften finanziellen Absicherung scheitern wird. Finanziert werden sollen die neuen Leistungen durch eine Anhebung der Pflegeversicherungsbeiträge um insgesamt 0,5 Prozentpunkte in zwei Schritten. Das wäre zwar prinzipiell ausreichend, so die Berechnungen des Sozialverbandes VdK. Allerdings wolle die Bundesregierung davon 0,1 Prozent für einen Pflegevorsorgefonds „abzweigen“, erklärt VdK-Präsidentin Ulrike Mascher. Statt die etwa 1,2 Milliarden Euro jährlich in einem „sinnlosen“ Fonds anzulegen, sollte das Geld genutzt werden, um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff schnell umzusetzen, so die Meinung des VdK.